DIE VIELEN ARCHIVE! DIE VIELEN STIMMEN! DIE VIELEN BEGIERDEN!
Im Zuge eines Vorstandswechsels in der Vereinigung Bildender Künstlerinnen Österreichs (VBKÖ) im Dezember 2011 wurde auch das Archiv der Vereinigung übergeben. In Folge haben wir 2012 das Sekretariat für Geister, Archivpolitiken und Lücken gegründet, mit dem eine kritische Auseinandersetzung und Aufarbeitung der 103jährigen Vereinsgeschichte strukturell verankert werden soll.
Sein erstes Programm DIE VIELEN ARCHIVE! im September 2012 sollte nicht nur Anstoß geben sich mit den ambivalenten Teilen der Geschichte der Vereinigung auseinanderzusetzen, sondern wir wollten uns auch damit beschäftigen, wie und warum feministische Archive gegründet und Archivalien gesammelt werden. Um das breite Spektrum an Praxen und Auseinandersetzungen in diesem Feld widerzuspiegeln, umfasste DIE VIELEN ARCHIVE! unterschiedliche Formate –Ausstellungen, ein Posterprojekt, einen Filmabend, eine Diskussionsrunde, mehrere Workshops und Texte–, in denen aus unterschiedlichen Perspektiven über feministische Archivpolitiken in den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Aktivismus diskutiert wurde.
Zu Beginn unserer Auseinandersetzung mit dem Archiv der VBKOE haben wir uns unter anderem die Frage gestellt: Welche Strukturen und Methoden ermöglichen eine kontinuierliche und kollektive Auseinandersetzung?(1) Im Sinne dieser programmatischen Frage nach einer kollektiven Geschichtsschreibung folgt nun eine Polyphonie, die sich aus Fragmenten der Beiträge der Diskussionsrunde Archive Räume Geschichten Zukünftiges und aus unseren eigenen Recherchen zum Archiv der VBKOE zusammensetzt.(2)
Es sprechen: Joana Coppi, die ihre Masterarbeit in Gender Studies über das Lesbian Herstory Archives (LHA) in New York geschrieben hat, Li Gerhalter, die die Sammlung Frauennachlässe in Wien betreut, Sabine Harik, die von 2004 bis 2006 für die Bestandsaufnahme des VBKOE Archivs zuständig war, Margit Hauser, die seit 1988 für STICHWORT, das Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung in Wien, arbeitet, und Manuela Zechner, die das future archive, ein Online-Archiv von Gesprächen, die in der Zukunft stattfinden, initiierte.
DIE VIELEN GRÜNDE! DIE VIELEN VERTRAUTEN! DIE VIELEN RÄUME!
Joana Coppi: Das 1973 von lesbischen Aktivistinnen gegründete Lesbian Herstory Archives hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle, aber vor allem private und unveröffentlichte Dokumente von und über lesbische Frauen zu sammeln und diese in erster Linie einer lesbischen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Das Sammeln von Dokumenten in einem geschützten Raum war untrennbar mit der Absicht verbunden, lesbische Frauen als Gruppe im Hier und Jetzt zusammenzubringen. Denn Kontinuität wird nur durch permanente Auseinandersetzung mit Geschichte ermöglicht.
Sabine Harik: Die Unterlagen, die heute Teil des VBKOE Archivs sind, befanden sich zuvor in der Wohnung der ehemaligen Präsidentin Corcoran gleich neben den Vereinigungsräumen. Deren Nachfolgerin Rudolfine Lackner hat sie mir übergeben. Teilweise war das Material in Mappen vorsortiert. Das habe ich dann strukturiert. Die Sammlung umfasst Materialien seit dem Gründungsjahr 1910 einschließlich der Nachlässe der verstorbenen Präsidentinnen.
Margit Hauser: Die Merkmale, die uns von anderen (z.B. staatlichen) Archiven unterscheiden, sind zum einen, dass wir unseren Gegenstand selbst definieren müssen – wir müssen festlegen, was Frauen- und Lesbenbewegung ist, was dazu gehört und was nicht. Diese Definitionen sind nicht starr, sondern immer im Fluss. Wir sind Archive von Communities und mit diesen eng verbunden, oder noch mehr – ein Teil von ihnen. Wir müssen die Dokumente aktiv einwerben und dazu Kontakte mit frauenbewegten Organisationen und Aktivistinnen herstellen, Vertrauen aufbauen. Das ist eine jahrelange Angelegenheit und ein Kommunikationsprozess. Zweitens sind unsere Archive widerständige Einrichtungen von unten. Und drittens wird der Gegenstand, zu dem wir sammeln, in seiner Existenz angezweifelt.
Joana Coppi: Wie eine der Gründerinnen des LHA, Joan Nestle, es 1979 ausgedrückt hat, soll das Archiv ein Raum für Dialog sein, insbesondere zwischen unterschiedlichen lesbischen Generationen. Innerhalb dieses Dialogs verändern sich natürlich auch Geschichtsbilder.
Manuela Zechner: Das future archive ist ein Projekt, das stark auf radikal-pädagogischen Methoden aufbaut. Es geht um eine andere Art von Archiv. Ein Archiv, das Gespräche mit Menschen in der Gegenwart führt, die sich in eine wünschenswerte Zukunft versetzen. Die also so tun, als ob sie z. B. in 2030 wären – aber in einem wünschenswerten 2030 – und sich von da aus an unser Heute erinnern. Im Prinzip geht es darum Gegenwart zu archivieren in Bezug auf Wünsche, Phantasien, Vorstellungen… Was für Zukunftsvorstellungen stehen hinter verschiedenen politischen Positionierungen?
Li Gerhalter: Edith Saurer, die Gründerin der Sammlung Frauennachlässe, hat 2009 gesagt, dass diese aus einem Prozess entstanden ist, nicht aus einer Entscheidung. Gleichzeitig verfolgen wir geschlechterpolitische Ansprüche und Absichten, um einen, wie wir es nennen, gegenläufigen Gedächtnisspeicher zu den hegemonialen Sammelpraxen zu schaffen. Obwohl es so viele Selbstzeugnisse von Frauen gibt, sind autobiografische Dokumente von Frauen in Archiven nach wie vor unterrepräsentiert. Das liegt hauptsächlich an den für so lange Zeit auf Politikgeschichte ausgerichteten Sammelpraktiken der Institutionen des modernen Staates. Gleichzeitig muss auch gesagt werden, dass von Wissenschafter_innen für lange Zeit unterschätzt wurde, in welchem Ausmaß Frauen tatsächlich geschrieben haben.
Sabine Harik: Das VBKOE Archiv gliedert sich in zwei Teile: in das eigentliche historische Archiv der Vereinigung – zum Beispiel mit den alten Statuten, dem Schriftwechsel, den Sammlungen – und in die persönlichen Unterlagen der Präsidentinnen, die im Grunde genommen nicht der Vereinigung gehören.(3)
Margit Hauser: Eine detaillierte Erfassung heißt auch, dass etwa Plakate, Buttons oder Flugblätter nicht nur nach Themen und Jahren, sondern auch nach Kriterien wie “ist lila” oder “enthält ein Frauenzeichen” abgefragt werden können – was Besucherinnen unseres Archivs oft ganz glücklich macht.
Joana Coppi: Ich denke, dass es sich in Bezug auf das Archiv der VBKOE lohnt, darüber nachzudenken, wie eine gegenwärtige politische Positionierung aussehen könnte, aus der heraus eine Auseinandersetzung mit den imperialistischen, nazistischen und feministischen Bewegungen allgemein möglich ist. Ganz nach dem Motto, Geschichte nicht zu verwahren, sondern zu aktualisieren.
DIE VIELEN GEGENPOSITIONEN! DIE VIELEN ZUKÜNFTE! DIE VIELEN GLÜCKSEMPFINDEN!
Text: Nina Höchtl und Julia Wieger
Der Text erschien im STICHWORT NEWSLETTER 35/2013, März-Juni 2013
(1) Siehe http://www.skgal.org/through-fragmentary-investigations/
(2) Die Diskussionsrunde Archive Räume Geschichten Zukünftiges fand am 26.9.2012 in der VBKÖ statt und war Teil des Programms DIE VIELEN ARCHIVE!
(3) Dieser Gesprächsausschnitt stammt aus einem Interview, dass das Sekretariat für Geister, Archivpolitiken und Lücken mit Sabine Harik im Dezember 2012 im neuen Archivraum der VBKÖ führte.